Passage #1: Ein Austauschprojekt





















Passage ist ein Austauschprojekt zwischen dem französischen Kulturverein L’èntretoise und dem Trägerverein des Import Export, dem Kunstzentrat e.V. Die Idee dafür entstand Mitte 2021, als Oli vom Kunstzentrat Cosima, Julien, Pierre, Leo und Juliette vom Verein „L’èntretoise“ in deren Hauptquartier „Le Moulon“ im wunderschönen Städtchen Barjols in Südfrankreich begegnete. Die Grundpfeiler der Ausrichtung von Le Moulon und dem Import Export ähneln sich stark: Hinhören, was gebraucht wird, Experimente wagen, Orte öffnen, Raum geben. Le Moulon will mittels unterschiedlicher künstlerischer Disziplinen Austausch fördern, Menschen zusammenbringen, Dialoge anregen. Das ist gerade in dieser von rechtsnationaler Politik dominierten Region in Südfrankreich wichtig. Für dieses Vorhaben wurde der Verein „L’èntretoise“ gegründet. „L’èntretoise“ bedeutet soviel wie „der Keil“ – der Keil, den die Moulon-Truppe in die verkrusteten Strukturen vor Ort schlagen will, um sie aufzubrechen. Nach der Begegnung mit L’èntretoise war schnell der Wunsch geboren, gemeinsam etwas zu starten.
Gegenseitiger Austausch und gemeinsames Lernen auf verschiedenen Ebenen
Oli erinnert sich: „Die Fragen, die wir uns stellten lauteten: Was können wir voneinander lernen? Was kann gemeinsam gestaltet werden? Welche Menschen aus unseren Communities ergänzen sich, um Neues zu schaffen? Für diese Fragen wollten wir bei einem einwöchigen Aufeinandertreffen Antworten skizzieren. „Passage“ nannten wir das Projekt spontan. Gemeinsames Ziel war von Anfang an, eine langjährige Beziehung zu etablieren. Und zwar durch künstlerischen und kulturellen Austausch in all seinen Formen und Farben. Passage soll in beide Richtungen funktionieren. Dadurch wird nicht zuletzt das Import Export seinem Namen gerecht. Den Wunsch, das Import Export mit Kulturstätten und Akteur:innen aus verschiedenen Orten Europas zu vernetzen, gibt es schon lange. Schließlich lebt unsere Einrichtung von Austausch und künstlerischen Prozessen. Auf welcher Ebene der Austausch stattfinden kann, war nicht von Anfang an klar. Zur Debatte stand, bildende Künstler:innen aus unserem Umfeld nach Barjols zu bringen, verschiedene Workshops zu geben oder etwas mit Musik zu machen. Wir haben uns für die Musik entschieden. Zum einem, weil Musik die größte Säule bei uns im Import Export ist, zum anderen eignet sie sich, um Sprachbarrieren aufzubrechen und Gemeinsamkeiten sichtbar zu machen. Wir planten am Ende des Austauschs drei Konzerte zu veranstalten – open air und zu freiem Eintritt. Mit Embryo haben wir in München die perfekte Band für unser Vorhaben. Keine andere Band, die mir bekannt ist, hat Austausch, Neugierde und Offenheit so sehr in ihre DNA implementiert wie Embryo.”
Embryo gibt es seit über 50 Jahren. Seit ihren Anfangstagen sind Embryo keine feste Band, sondern eine wabernde, sich verändernde Gruppe. Früher waren Embryo zentriert um Christian Burchard, seit 2018 um dessen Tochter Marja Burchard. Vater und Tochter sind und waren immer auf der Suche nach neuen Eindrücken und Spielkamerad:innen. Dadurch ist kein Embryo Konzert wie das andere.
Als die Idee für Passage weiter Gestalt annahm, kam der französische Verein „Culture Provence Verdon” als Kooperationspartner hinzu. Sein Vorstand Richard organisiert seit vielen Jahren kleine und große Konzerte in der Region um Barjols und verfügt dadurch über viele wertvolle Kontakte. Von Richard kam der Vorschlag, für den musikalischen Austausch die lokale Jazz-Sängerin Cathy Heiting und ebenfalls ortsansässigen Gitarristen Loïs Coeurdeuil mit Embryo zusammenzubringen.
Planung und Finanzierung
Nachdem das Konzept nun stand und die Künstler:innen an Board waren, ging es an die Finanzierung des Projekts. Die Kalkulation beinhaltete Kosten für Planung und Organisation, Konzeption, Pressearbeit, Durchführung vor Ort, An- und Abreise, Unterkünfte und Verpflegung, Künstler:innen- und Techniker-Gagen, Dokumentation sowie für das Equipment. Auf der Suche nach Fördergeldern stießen wir auf den Deutsch-Französischen Bürgerfonds, der von unserem Konzept begeistert war und uns finanzielle Unterstützung zusagte. Zusammen mit weiteren Geldern vom Kulturreferat München und der Stadt Barjols war Passage damit durchfinanziert. Wir konnten endlich damit anfangen, die Reisen zu buchen und in die konkrete Planung zu gehen.
Von Anfang an stand für fest, dass das ganze Projekt filmisch festgehalten werden sollte. Zum einen, damit mehr als „nur“ die Menschen vor Ort an dem Austausch teilhaben können. Zum anderen, um eine filmische Dokumentation zur Verfügung zu haben. Da das Projekt das erste von vielen Austauschprojekten zwischen L’èntretoise und dem Kunstzentrat e.V. sein soll, würde das Filmmaterial eines fernen Tages die Möglichkeit eröffnen, in einem Kurzfilm rückblickend die Geschichte von Passage von Tag 1 an zu erzählen.
Ursprünglich hatten wir den Filmemacher Kai Stöpel für den filmischen Teil des Projekts gewinnen können, der aber aufgrund familiärer Gründe aus dem Vorhaben aussteigen musste. Glück im Unglück: Barjols ist eine sehr lebendige Kleinstadt und weist mit über 70 Vereinen auf 3000 Einwohner:innen ein hohes Engagement auf. Unter anderem findet sich dort der Verein „Le Vidéograph“, der zusammen mit Jugendlichen und Amateur:innen filmische Projekte umsetzt. Es wäre ohnehin ein Frevel gewesen, den Verein nicht zu involvieren. Le Vidéograph war sofort Feuer und Flamme Teil des Projekts zu werden. Ergänzend brachten wir Enid Valu aus München mit. Enid ist die Archivarin der Münchner Musikszene. Mit ihrer Kamera ist sie pausenlos auf Konzerten und anderen musikalischen Veranstaltungen im Import Export und der ganzen Stadt unterwegs. Mit ihr war das Team komplett. Es konnte losgehen.
Auf nach Barjols
Am 14. September 2022 war es schließlich so weit. Katha und Oli vom Import Export stiegen in München in den Zug. Embryo belud ihren Tourbus. Enid checkte am Flughafen ein. Es ging auf nach Barjols in Südfrankreich. Außerdem änderten ein paar weitere Import Export Mitarbeiter:innen, die sich gerade urlaubsbedingt in der Gegend befanden, kurzerhand ihre Reisepläne und peilten ebenfalls Barjols an, um sich Passage nicht entgehen zu lassen. „Vor unserer Ankunft in Barjols waren wir vor allem wegen der unplanbaren Faktoren des Projekts nervös,“ erinnert sich Oli. „Wie würden sich die Musiker:innen verstehen? Kann der künstlerische Austausch in so kurzer Zeit zu guten Ergebnissen führen? Die Musiker:innen würden nur zwei Tage Zeit haben um sich kennenzulernen und an einem gemeinsamen Bühnenprogramm zu arbeiten. Doch vor allem waren wir alle sehr neugierig aufeinander.“ Spätabends trafen alle Münchner Abgesandten in Barjols ein. Nach einer allgemeinen Begrüßungsrunde, führten die Gastgeber:innen von L’èntretoise durch Le Moulon, den Dreh- und Angelpunkt ihres Vereins.
Le Moulon ist ein kolossaler Gebäudekomplex einer ehemaligen Gerberei in Barjols. Er erstreckt sich auf 4500 Quadratmetern über vier Stockwerke, die wie riesige Hallen übereinandergestapelt sind. „Le Moulon“ bedeutet eigentlich „der Haufen“ und ist der Name eines Spiels, welches auf den Pausenhöfen Frankreichs gespielt wird. Dabei ruft ein Kind „MOULON!“ und legt sich auf den Boden, woraufhin alle Kinder angerannt kommen und sich auf das Kind werfen, bis ein „Moulon“ entsteht. Dabei kann man nicht gewinnen oder verlieren. Am Ende gibt es einfach einen großen Berg von Freunden. Im Fall von Le Moulon besteht der Haufen aus Cosima, Julien, Pierre, Leo und Juliette, die in der ehemaligen Gerberei ihre Träume verwirklichen. Der Zustand der Immobilie ist eher mäßig, es gibt wahnsinnig viel zu tun. Doch eines Tages, so die Vision, sollen hier 30 Wohneinheiten, Ateliers, Seminar- und Workshop-Räume sowie eine Bühne entstehen. Alles soll bezahlbar sein, die Zielgruppe sind Künstler:innen, die einen Ort suchen an dem sie mit anderen aufgeschlossenen Menschen zusammen arbeiten und wohnen können. Le Moulon wird unterstützt von Silvia und Christian, einem Architektenpaar aus Berlin. Die beiden haben neben ihrer praktischen Erfahrung mit architektonischen Großprojekten auch das nötige Startkapital mit in das Projekt gebracht.
Am nächsten Tag beim Frühstück kam dann zum ersten Mal das gesamte Team zusammen. Das waren sehr viele Leute. Die Stimmung war von Anfang an super. Bei über 20 involvierten Personen war es alles andere als selbstverständlich, dass es so gut harmonieren würde. Nach dem ersten Kennenlernen beim Frühstück ging es gleich los.
Der Filmverein Le Vidéograph, Enid und Katha in Funktion der Regisseurin besprachen den dramaturgischen Ablauf der kommenden Tage, erstellten Listen und Zeitpläne für festzuhaltende Begegnungen und Interviews. Embryo, Cathy und Loïs besichtigten potentielle Proberäume und begannen schließlich in einem kleinen Theaterraum im Rathaus von Barjols, sich musikalisch kennenzulernen. In Le Moulon konnten die Proben nicht stattfinden, da der Hall in den riesigen Räumen zu extrem war.
Viel musste erledigt werden und die über 20 beteiligten Menschen koordiniert, damit am Ende die drei Konzerte in und um Barjols reibungslos ablaufen würden. Das Tempo, mit dem das ganze Vorhaben umzusetzen war, war entsprechend hoch. Das bedeutete lange Tage und Nächte, viele Besprechungen und Begegnungen. Zusätzlich mussten wir alle uns an dem bisher unbekannten Ort zurecht finden. Weil die Gruppe hochmotiviert war und alle gut darin waren, aufeinander einzugehen und miteinander umzugehen, funktionierte letztlich alles besser als erwartet.
Auch, dass sich die Musiker:innen so blendend miteinander verstehen, war nicht selbstverständlich. Sie hatten sich zuvor nie gesehen und auf den ersten Blick passte die Konstellation musikalisch gesehen gar nicht besonders gut zusammen. Doch auch das funktionierte. Cathy und Loïs freuten sich, aus dem Korsett festgeschriebener Noten auszubrechen. Embryo, deren Stücke in der Regel instrumental ausgerichtet sind, fanden es toll, mit einer Sängerin zusammenzuarbeiten. „Wenn wir uns in die Proben der Musiker:innen schlichen, bekamen wir Gänsehaut von dem, was wir zu hören bekamen und Vorfreude auf die kommenden Konzerte“, sagt Oli.
Die gute Laune aller Involvierten blieb auch in den folgenden Tagen erhalten. Dazu trug sicherlich das wundervolle Wetter bei. Eine weitere große Rolle spielte der Küchenchef Trib, der uns täglich mit neuen, ausgefallenen Köstlichkeiten überraschte. Zweimal am Tag kam das ganze Team zum gemeinsamen Essen zusammen und genoss Tribs Kreationen und die arbeitsfreie Zeit. Wenn das Team bei dem vorgelegten Tempo wegen Hunger schlechte Laune bekommen hätte, wäre vermutlich alles kollabiert. Danke Trib!
So verbrachten wir die ersten beiden Tage in Barjols mit musikalischen Proben, Videoaufnahmen und der Planung der bevorstehenden Konzerte.
Das erste Konzert
Am dritten Tag des Aufenthalts, ein Samstag, stand bereits das erste Konzert an. Einer der Kooperationspartner von Passage, der Verein „Le Plancher des Chèvres” veranstaltet jeden Sommer ein Theater- und Musikfestival. Dieses Jahr würde es im Dorf Quinson in der Nähe der Schlucht von Verdon stattfinden. Embryo, Cathy und Loïs standen als Main Act auf dem Programm. Während des Aufbaus, brannte die Sonne unbarmherzig auf das Team herab. Es gab eine Reihe technischer Probleme, die dem Tontechniker Rudy und Julien von L’èntretoise zusätzlich den Schweiß aus den Poren trieben. Doch schlussendlich klappte alles. Alle waren begeistert von den Songs, die die Musiker:innen gemeinsam auf der Bühne improvisierten. Alle waren euphorisiert. Als nach dem Abbau der Bühne die Autobatterie des Organisations-Busses leer war, fanden sich schnell eine Unmenge an Helfer:innen, die das Gefährt auf eine Anhöhe schoben, um mit den gewonnenen Schwung, den Motor starten zu können.
Am darauffolgenden Tag fand in Barjols das zweite Konzert der Passage-Formation statt. Unser Team baute eine Bühne vor dem Rathaus auf, Bekannte unserer Gastgeber stellten eine Bar auf und verkauften selbstgebrautes Bier, an einem großen Essensstand wurden die Besucher:innen mit frischen Crêpes versorgt. Diesmal machte die Bühnentechnik keine Probleme, der Soundcheck verlief gut und bald sammelten sich die ersten Gäste auf dem Platz. Bevor das Konzert begann, stellten Katha und Julien Passage auf der Bühne vor. Das Konzert war wieder überwältigend. Dieses Mal stand als weiterer Musiker unser Koch Trib auf der Bühne. Trib, der neben unserer Verköstigung auch für die Beleuchtung bei den Konzerten verantwortlich war, strotzt vor Talenten in den verschiedensten Bereichen. So ist er auch Musiker und kreiert und baut eigene Instrumente. Er hatte sich überreden lassen, mit seiner singenden Säge ein Stück mit den anderen Musikern zu spielen. Wie in Trance saß er nun da oben und entlockte der Säge ungewohnte Töne, die mit dem Sound des Passage-Ensembles zu einem sphärischen Ganzen verflossen. Wir bejubelten das Geschehen. Der ganze Abend war ein Riesenerfolg.
Nach diesen ersten beiden Konzerten machten wir uns auf den Weg nach Marseille. Dort sollte nach einem Tag Spielpause das große Abschlusskonzert von Embryo, Cathy und Loïs stattfinden. Bevor wir uns ins Geschehen der quirligen Großstadt stürzten, machten wir noch einen Abstecher ans Meer und sprangen in einer abgelegenen Bucht, in der es vor Quallen nur so wimmelte, ins Wasser.
Lange konnten wir das Badevergnügen nicht auskosten, denn schon wartete der nächste Termin. Wir hatten eine Einladung von „Les 8 Pillards“, einer Ateliergemeinschaft, die mitten in Marseille einen riesigen Gebäudekomplex unterhält und gestaltet. Wir lernten die ansässigen Künstler:innen und Kollektive kennen, während Trib, der Teil von 8 Pillards ist, wieder für uns kochte. Zu 45st speisten wir an einer langen Tafel, machten tolle Bekanntschaften und erhielten bleibende Eindrücke vom Spirit der Gemeinschaft.
Und dann kam schon der Dienstag, der letzte Tag und das große Finale: das Konzert von Embryo mit Cathy und Loïs mitten in Marseille. Wir verbrachten den halben Tag mit dem Aufbau und fanden Zeit für einen Streifzug durch die aufgeweckte Stadt. Abends kamen etwa 300 Menschen zu dem Konzert auf den kleinen Platz, der sich auf oberhalb eines beliebten Boule-Spielfeldes befindet. Die Sonne ging über dem Meer unter, als sich die Musiker:innen zum dritten Mal in Ekstase spielten. Wie von Embryo nicht anders erwartet, war auch dieses dritte Konzert etwas vollkommen Neues und nicht vergleichbar mit den vorangegangenen Konzerten.
Nach dem Konzert kam ein Mann auf uns zu und erzählte, dass sein Bruder in Marokko ihm am Telefon von dem heutigen Embryo-Konzert erzählt habe. Der Mann brach in Tränen aus. Vor 30 Jahren hatte er zusammen mit Christian Burchard Konzerte in Marokko gespielt, Marja, damals ein kleines Mädchen, war auch dabei. Marja und er hatten viel zu bereden und der Mann gab uns im Anschluss ein Interview. Was für ein gelungener Abschluss!
Unsere Mission war erfüllt, Passage #1 war für alle Beteiligten zu einer wertvollen Erfahrung und einem großen Erfolg geworden. Nun hieß es Abschied nehmen. Unsere stetig gewachsene Truppe feierte an diesem letzten gemeinsamen Abend noch einmal gebührend die zurückliegenden, wunderschönen, strapaziösen Tage. Am darauffolgenden Tag, eine Woche nach dem Start von Passage, gingen wir bereits wieder getrennte Wege und wir vom Import Export fuhren zurück nach München.
Alles vorbei?
Wochen später, als alle wieder zu Hause und von ihren eigenen Projekten eingenommen waren, war die Passage-Whatsapp-Gruppe noch immer aktiv. Eine nach dem anderem schrieben Dankesnachrichten und schickten Bilder, die sie gemacht hatten. In den Nachrichten war die Rede von „artistic explosion“, „ great honor“ und „fantastic project“. “Das ist für mich eh das Erstaunlichste,” sagt Oli. “Alle, wirklich alle, sind glücklich, dabei gewesen zu sein und freuen sich auf Zukünftiges.”
Passage #2 soll im Mai/Juni 2023 bei uns im Import Export stattfinden. Die ersten Ideen dazu nehmen in unseren Köpfen bereits Gestalt an.